Veränderte Bewusstseinszustände im Taiji Quan
Heilung von Mensch und Umwelt
Die Kenntnis der Technik reicht nicht aus. Man muß die Techniken transzendieren, damit die Kunst eine kunstlose Kunst wird, die dem Unbewussten entspringt.
(Daisetz Suzuki)
Erst nach mehreren Trainingsjahren kam ich zu der Erkenntnis, daß der innere Sinn der Kampfkünste darin liegt, die innere spirituelle Entwicklung des Menschen voranzutreiben.
(Joe Hyams)
Zusammenfassung
Taiji Quan, Meditation in Bewegung, hat neben den körperlichen und energetischen Aspekten auch eine geistige Dimension. Dabei treten – ähnlich wie bei anderen Meditationstechniken – veränderte Bewusstseinszustände auf, die eine potentiell heilende Wirkung für Mensch und Umwelt haben.
Einleitung
Kampfkunst und Gesundheitswirkung sind sicherlich die Hauptaspekte des Taiji Quan. Dabei spielen neben körperlichen (Kampfkunsttechniken, Heilgymnastik) und energetischen (TCM, Qigong) auch geistige Faktoren eine Rolle, die allerdings in der Diskussion häufig zu kurz kommen, da sie meist erst für fortgeschrittene Übende in den Blickpunkt kommen . Diese geistigen Aspekte des Taiji Quan und ihre Auswirkungen sollen im Folgenden näher beschrieben werden.
Budo – Der Weg des Kriegers
Budo umfaßt alle Kampfkünste Japans und vertieft sehr direkt die Beziehungen zwischen Ethik, Religion und Philosophie. Die alten Texte über Budo sprechen allein von der geistigen Bildung und der Reflexion über das Wesen des Selbst: „Wer bin ich?“ Ein Bezug zum Sport ist erst in neuerer Zeit entstanden.
Do (abgeleitet vom chinesischen Dao) bedeutet WEG. Durch welche Methoden kann man den WEG üben? Hier sind keine Techniken und kein sportlicher Wettkampf gemeint. Vielmehr geht es darum das Wesen seines Geistes und seines ICH zu verstehen und seine ursprüngliche Natur zu erkennen. Dieser WEG ist in Asien die Essenz aller Religionen und Philosophien. Auch die Lehre Laotses und das Taiji (Yin/Yang) haben hier ihren Ursprung. Bu bedeutet „den Kampf anhalten und ihn beenden“, d.h. im Budo geht es eigentlich darum den Frieden und die Meisterschaft über sich selbst zu finden[1].
Im Zazen[2] heißt „nicht bewegen“ eigentlich „nicht an einem Gedanken festhalten, sondern die Gedanken vorbeiziehen lassen“. Entsprechend bedeutet dies im Kendo (Schwert-WEG) „nicht mit dem Geist am Schwert haften“. So schreibt Meister Takuan:
„Wenn Ihr in dem Augenblick, da Ihr das Schwert bemerkt, welches Euch treffen will, auch nur mit einem Gedanken daran denkt, dem Schwert da zu begegnen, wo es eben jetzt gerade ist, so wird Euer Geist bei ihm haltmachen in eben dieser Position, Eure eigenen Bewegungen werden unterbunden, und Euer Gegner wird Euch niederstrecken. (…) Wenn aber in dem Augenblick, da Ihr das Schwert seht, welches Euch treffen will, Euer Geist nicht von ihm festgehalten wird und Ihr im Rhythmus des heransausenden Schwertes bleibt; wenn Ihr nicht daran denkt Euren Gegner zu treffen, und wenn keine Gedanken und Urteile bleiben; wenn in dem Augenblick, da Ihr das heransausende Schwert seht, Euer Geist nicht im geringsten festgehalten wird und Ihr augenblicklich handelt und dem Gegner das Schwert entwindet – so wird das Schwert, das Euch niederstrecken sollte, Euer werden, und wird nun das Schwert sein, das Euren Gegner niederstreckt.“[3]
Die Ruhe in der Bewegung ist also das Geheimnis im Budo und des Zen – beide haben den gleichen Geschmack[4]. Taiji Quan ist eine alte chinesische Kampfkunst, die Prinzipien sind denen des Budo vergleichbar, d.h. auch Taiji Quan und Zen-Meditation sind eigentlich eins. Der Weg des Taiji Quan wäre also Taijido.
Meditation und Bewusstseinszustände
Bei einem Meditierenden können, mit einem während der Meditation angeschlossenen EEG-Gerät, deutlich veränderte Gehirnwellen aufgezeichnet werden[5]. Man unterscheidet im wesentlichen Alpha-, Beta-, Theta- und Delta-Wellen. Die Zuordnung zu den korrospondierenden Bewusstseinszuständen zeigt folgende Tabelle:
Gehirnwellen | Bewusstseinszustand | Bewusstseinsebene |
Beta | Intensives, analytisches Denken | Grobstofflich / ICH |
Alpha | Wach und entspannt | Grobstofflich / ICH |
Theta | TraumzustandZustände intensiver Kreativität | Feinstofflich / SEELE |
Delta | Traumloser Tiefschlaf | Kausal / GEIST |
Der Eintritt in verschiedene Formen meditativer Zustände ist nun mit dem Auftreten charakteristischer Gehirnwellenmuster verknüpft. Hiermit wird ein Zusammenhang zwischen subjektivem inneren Bewusstsein und dem objektiv von außen meßbaren Gehirn hergestellt. In einem Meditationszustand des Nirvikalpa-Samadhi (vollständiges Erlöschen der Geistestätigkeit) sind z.B. ausschließlich Delta-Wellen zu messen – keine Alpha-, Beta- und Theta-Wellen. Bei Meditationszuständen in denen Visualisierungstechniken verwendet werden, treten zusätzlich überwiegend Theta-Wellen auf. Ganz allgemein lässt sich also festhalten, dass in meditativen Zuständen die Beta- und Alpha-Wellen verschwinden und dafür Theta- und teilweise sogar Delta-Wellen auftreten. Diese Zustände sind der feinstofflichen (SEELE) und kausalen (GEIST) Bewusstseinsebene zuzuordnen.
Taiji Quan – Meditation in Bewegung[6]
Interessant wären Untersuchungen, in denen bei Taiji Quan Praktizierenden während des Laufens einer Form die Gehirnwellenmuster mit einem EEG-Gerät aufgezeichnet werden. Leider sind solche Untersuchungen meines Wissens bisher noch nicht durchgeführt worden. Einen Anhaltspunkt über meditative Zustände gibt Meister Takuan, indem er folgende Beobachtung beim Erlernen einer Kampfkunst beschreibt:
„Da der Anfänger nichts über seine Körperhaltung oder die Haltung des Schwertes weiß, verweilt auch der Geist bei nichts, was in ihm ist. Führt jemand einen Streich mit dem Schwert gegen ihn, so begegnet er dem Angriff einfach, ohne irgend etwas im Sinn zu haben. Wenn er nun verschiedene Dinge studiert und übt und man ihn lehrt, wie man eine Stellung einnimmt, wie man das Schwert hält und wo sein Geist sein soll, so wird sein Geist an vielen Stellen haltmachen. Wenn er nun wider seinen Gegner einen Streich führen möchte, so ist er in arger Verlegenheit. Später, wenn die Tage vergehen und die Zeit sich ansammelt, wird die Übung dazu führen, daß er die Haltung des Körpers und des Schwertes nicht mehr eigens erwägen muß. Sein Geist wird wieder so, wie er am Anfang war, als er noch nichts wußte und alles erst noch lernen mußte.“[7]
Somit kann man davon ausgehen, daß der Verlauf der Bewusstseinszustände und der Gehirnwellenmuster beim Laufen einer Taiji Quan Form vom Entwicklungsstand des Praktizierenden abhängig sein wird. Je größer die Fortschritte, desto häufiger werden Phasen tiefer Meditationszustände auftreten, die sich charakteristischerweise durch Theta-Wellen (evtl. vereinzelt auch Delta-Wellen) im EEG auszeichnen. Bei Anfängern dürften überwiegend Beta-Wellen (Konzentration auf Stellungen und Körperhaltung) und später auch Alpha-Wellen (zunehmend entspannter Wachzustand) auftreten.
Die subjektiven Bewusstseinszustände beim Taiji Quan liegen bei weit Fortgeschrittenen also vermutlich überwiegend auf der feinstofflichen Ebene (Theta-Wellen). Beim Üben in der freien Natur dürften daher Zustände von Naturmystik[8] auftreten. Durch die Aufnahme von EEGs während des Taijiquan müßte natürlich erst noch nachgewiesen werden, dass es sich tatsächlich – gegenüber dem normalen Wachbewußtsein (Beta- und Alpha-Wellen) – um veränderte, transpersonale Bewusstseinszustände handelt.
Heilwirkung von veränderten Bewusstseinszuständen
Transpersonale Bewusstseinszustände (feinstoffliche Ebene/SEELE und kausale Ebene/GEIST) haben potentiell heilende Wirkung auf Körper, Geist und Seele[9]. Da solche Bewusstseinszustände sehr wahrscheinlich auch beim Taiji Quan auftreten, hat seine Gesundheitswirkung auch eine geistige Dimension.
Durch eine Ausdehnung des Gesundheitskonzeptes vom Individuum auf die Umwelt, kombiniert mit einer Bewusstseinsentwicklung zu transpersonalen Stufen, übernimmt man automatisch Verantwortung für die Umwelt, da die Identifikation des „Ich“ nicht mehr auf den eigenen Körper/Geist beschränkt ist, sondern nun auch Natur und Umwelt umfaßt.
Wenn wir beispielsweise eine Taiji Quan Form in der freien Natur üben, stellt sich dabei oft ein meditativer Zustand ein, in dem wir das Einssein mit der Natur erleben. „Die Gestimmtheit bei dieser Erfahrung auf der psychischen Ebene (Naturmystik) ist immer diejenige einer tiefen Verehrung, eine Empfindung der Ehrfurcht vor dem Dasein, eine Wahrnehmung der Bedeutungslosigkeit des Menschen im Allgemeinen und der eigenen Person im Besonderen.„[8]
Durch regelmäßiges Üben im Freien treten diese Gipfelerfahrungen häufiger auf, und eine Entwicklung zur dauernden Realisierung dieser Entwicklungsstufe, die mit einer weltzentrischen moralischen Entwicklung einhergeht, wird gefördert.
Die globale Umweltkrise ist in ihrem Kern eine Bewusstseinskrise. Es hilft wenig an den Symptomen herumzudoktern indem wir Therorien über vernetzte Systeme aufstellen und als Konsequenz dann Grenzwerte für Umweltgifte verschärfen, neue Energiequellen erschließen und Umweltsteuern erheben. Dies alles ist natürlich nicht verkehrt, aber es linderd nur die Symptome, ohne die zugrundeliegende Krankheit wirklich zu heilen. Wir müssen an die Wurzel des Problems, und das ist die Tatsache, „dass nicht genug Menschen sich zu den postkonventionellen, weltzentrischen, globalen Ebenen des Bewusstseins entwickelt haben, wo sie automatisch dazu bewegt werden, für das globale Gemeineigentum zu sorgen. Und Menschen entwickeln sich zu jenen postkonventionellen Stufen nicht dadurch, daß sie Systemtheorie lernen, sondern daß sie mindestens ein halbes Dutzend innere Haupttransformationen durchmachen, von egozentrisch zu soziozentrisch zu weltzentrisch, woraufhin sie dann, und nicht vorher, zu einer tiefen und authentischen Anteilnahme für Gaia [Erde als lebendiger Organismus] erwachen können.“[10]
Wenn wir uns aber auf eine systematische, gründliche Selbsterforschung mit Hilfe außergewöhnlicher Bewusstseinszustände einlassen, die beispielsweise durch Meditation und Taijiquan ausgelöst werden, neigen wir dazu, eine klare und einheitliche Anschauung oder Vision von uns und der Wirklichkeit zu entwickeln.
„Die grundlegenden Merkmale dieser neuen Einstellung zum Leben sind ein Gefühl tiefen Verbundenseins mit den anderen Menschen, anderen Arten und mit der Natur, die Sorge um die globale Zukunft und eine universale und allumfassende Spiritualität. Weitere wichtige Charakteristika sind: ein ökologisches Umdenken in Richtung erneuerbarer Energiequellen, das dringende Bedürfnis, die Umweltverschmutzung zu beseitigen, und eine Tendenz, zu den natürlichen Kreisläufen zurückzukehren.“[11]
Literaturzitate
[1] Deshimaru-Roshi, Taisen: Zen in den Kampfkünsten Japans; S. 24f.
[2] Sitzmeditation im Zen-Buddhismus.
[3] Takuan, Soho: Zen in der Kunst des kampflosen Kampfes; S. 19f.
[4] Deshimaru-Roshi, Taisen: Zen in den Kampfkünsten Japans; S. 36.
[5] Wilber, Ken: Einfach „Das“; S. 98ff.
[6] Da Liu: T’ai-chi und Meditation.
[7] Takuan, Soho: Zen in der Kunst des kampflosen Kampfes; S. 25f.
[8] Wilber: Einfach „Das“, S. 196.
[9] Grof, Stanislav: Das Abenteuer der Selbstentdeckung – Heilung durch veränderte Bewußtseinszustände.
[10] Wilber, Ken: Integrale Psychologie; S. 159.
[11] Grof, Stanislav; Laszlo, Ervin; Russell, Peter: Die Bewußtseinsrevolution; S.236f.
Literatur
- Da Liu: T’ai-chi und Meditation (1989).
- Deshimaru-Roshi, Taisen: Zen in den Kampfkünsten Japans (1978).
- Grof, Stanislav: Das Abenteuer der Selbstentdeckung – Heilung durch veränderte Bewußseinszustände (1994).
- Grof, Stanislav; Laszlo, Ervin; Russell, Peter: Die Bewußtseinsrevolution (1999).
- Hyams, Joe: Der Weg der leeren Hand – Zen in den Kampfkünsten (1991).
- Murphy, Michael: Der Quantenmensch – Ein Blick in die Entfaltung des menschlichen Potentials im 21. Jahrhundert (1994).
- Takuan Soho: Zen in der Kunst des kampflosen Kampfes (1994).
- Wilber, Ken: Einfach „Das“ – Tagebuch eines ereignisreichen Jahres (2001).
- Wilber, Ken: Integrale Psychologie – Geist, Bewußtsein, Psychologie, Therapie (2001).