… und was wir mit Achtsamkeit und Tai Chi lernen können
Eines Tages sprach ein Samurai bei Zenmeister Hakuin vor und wollte von ihm wissen: „Gibt es wirklich ein Paradies und eine Hölle?“ „Wer bist du?“, fragte ihn der Meister. „Ich bin Samurai …“ „Du ein Krieger!?“, rief Hakuin aus: „Sieh dich doch mal an. Welcher Herr würde wohl deine Dienste wollen? Du siehst aus wie ein Bettler.“ Da packte den Samurai die Wut. Bebend vor Zorn zog er sein Schwert. Hakuin fuhr fort: „Na so was, sogar ein Schwert besitzt du?! Aber du bist sicher zu ungeschickt, um mir den Kopf abzuschlagen.“ Wutentbrannt hob der Samurai sein Schwert, um den Meister anzugreifen. In diesem Moment sagte dieser: „Nun hast du das Tor zur Hölle aufgestoßen.“ Überrascht und beeindruckt durch die Gelassenheit des Meisters, senkte der Samurai sein Schwert – und verneigte sich. „Nun öffnet sich das Tor zum Paradies“, erklärte der Meister.
(sinngemäß aus “ Pascal Fauliot: Die Kunst zu siegen, ohne zu kämpfen – Geheimnisse und Geschichten über die Kampfkünste“)
Zenmeister Hakuin stellt dem Samurai einleitend die direkte Frage „Wer bist du?“ und der Samurai identifiziert sich sofort mit seiner Rolle als Samurai. So gefangen erklärt Hakuin ihm nun Hölle und Paradies nicht mit beschreibenden Worten, sondern ermöglicht dem Samurai eine direkte Erfahrung der Hölle und des Paradieses.
So ähnlich geht es wohl den meisten von uns, wenn wir uns zu stark mit einer bestimmten Rolle identifizieren und diese Rolle dann angegriffen wird. Wir werden ärgerlich und wütend, wir geraten in Stress. Sobald wir erkennen können, dass unsere Identifikationen und unsere Gedanken darüber eine entscheidende Rolle in diesem Prozess spielen, bekommen wir die Chance loszulassen, uns zu entspannen und unsere ausschließliche Identifikation mit der angegriffenen Rolle zu lösen und auszuweiten.
Prinzipien im Tai Chi Chuan
Eines der wichtigsten Prinzipien der inneren Kampfkunst Tai Chi Chuan ist Entspannung (Loslassen) innerhalb einer bestimmten Struktur, was zur Verwurzelung und damit hoher Stabilität bei gleichzeitiger Durchlässigkeit (Leere) führt. Jede Art von Krafteinsatz durch Muskelkontraktion ist zu vermeiden. Beim Laufen einer Tai Chi Form (vergleichbar mit Katas im Karate) kann das nach einer Zeit intensiven Übens ganz gut gelingen. Deutlich schwieriger wird die Umsetzung dieses Prinzips im Push Hands („Zweikampf“). Da muss ich mich nicht mehr nur mit mir alleine auseinandersetzen, sondern sehe mich den Angriffen eines Gegners ausgesetzt.
Durch einen Angriff ausgelöster Stress
Aus unterschiedlichen – meist nachvollziehbaren – Gründen, die meist in unserer Persönlichkeitsstruktur verankert sind, löst die Situation eines Angriffs Stress in uns aus. Und erfahrungsgemäß führt Stress zu Anspannung und nicht zu Entspannung. Damit wird es sehr schwer, das wichtigste Prinzip im Tai Chi Chuan umzusetzen.
Ein Angriff ist häufig der Auslöser für Stress. Dieser Auslöser setzt in mir innerhalb von Sekundenbruchteilen eine zunächst unbewusste Gedankenkette in Gang. Ich werde bedroht, mache mir Sorgen oder erinnere mich an frühere Situationen, in denen ich Gewalt ausgesetzt war. Und überhaupt: Wer bin ich eigentlich? Bin ich nicht ein guter Tai Chi „Kämpfer“. Alle diese Gedanken lösen wiederum Gefühle von Angst, Ärger oder Wut in mir aus, welche Stress verursachen und die physiologischen Stressreaktionen auslösen. Meine Gedanken über die Situation sind also die eigentliche Ursache meiner Stressreaktion.
Diese Unterscheidung von Auslöser und Ursache einer (Stress)reaktion macht auch die GFK (Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg). Vor allem die Zeit dazwischen, in der die Gedanken- und Gefühlskette in Gang kommt, ist für unsere weitere Betrachtung wichtig.
Was geschieht in unserem Körper aufgrund unseres erlebten Stresses?
Unser autonomes (bzw. vegetatives) Nervensystem (ANS) besteht aus zwei Ästen: Dem Parasympathikus und dem Sympathikus. Wie der Name schon sagt, reagiert das ANS nun vollkommen autonom auf unsere unbewussten Gedanken und Gefühle. Und im Falle von Stress wird der Sympathikus aktiviert. Das hat die Ausschüttung von Stresshormonen zur Folge, die wiederum zu einer Steigerung von Puls und Blutdruck und einer Atembeschleunigung führen. Das ganze System schaltet auf „Angriff“ oder „Flucht“, was wiederum eine zunehmende Muskelanspannung zur Folge hat. Und schon sind wir da, wo wir nicht (nicht nur im Tai Chi Chuan nicht) hin wollten: Anspannung anstelle von Entspannung. Und dann kann die innere Kampfkunst Tai Chi Chuan nicht mehr funktionieren, da das wichtigste Prinzip verletzt wird.
Wie kann ich entspannt bleiben?
Zunächst können wir bewusst den „Gegenspieler“ des Sympathikus, den Parasympathikus trainieren. Die beiden Äste des ANS verhalten sich wie Yang und Yin: Während der Sympathikus unser ganzes System anfeuert und beschleunigt (Yang), sorgt der Parasympathikus für Entschleunigung, Ruhe und Entspannung (Yin). Durch unseren Lebensstil herrscht häufig kein Gleichgewicht mehr zwischen beiden Ästen, der Sympathikus ist im Dauereinsatz, während der Parasympathikus so langsam verkümmert.
Der Atem, der ja in vielen Traditionen als Bindeglied zwischen bewussten und unbewussten Prozessen dient, kann uns hier weiterhelfen. Es ist bekannt, dass der Parasympathikus durch gleichmäßig langsames Atmen von 4-7 Atemzügen pro Minute aktiviert wird. Damit können wir den Parasympathikus regelrecht trainieren und stärken, so dass unsere Chancen steigen, dass sich wieder ein Gleichgewicht zwischen den beiden Ästen unseres ANS ausbilden kann, Yin und Yang in Harmonie kommen.
Wie kann ich die Zeitspanne zwischen Auslöser und Ursache der Stressreaktion verlängern
Der zweite Ansatzpunkt sind unsere Gedanken, die durch einen Angriff ausgelöst werden: Wie können wir unsere rasante Gedankenkette und die entstehenden Gefühle frühzeitig bewusst wahrnehmen und beobachten, bevor eine automatisierte Stress-Reaktion ausgelöst wird. Wenn wir Zeit gewinnen, können wir uns an den Atem erinnern, uns im Körper zentrieren und eine bewusste Entscheidung für eine Reaktion treffen.
Hier kann Achtsamkeit eine große Hilfe sein. Aber diese muss „offline“ trainiert werden – in der Stresssituation („online“) ist es meist zu spät, mit Achtsamkeit beginnen zu wollen. Achtsamkeit bzw. erweiterte Selbstwahrnehmung muss täglich geübt werden, damit wir eine Chance haben, dass sie uns in der Stresssituation weiterhelfen kann. Registrieren wir in einer Stresssituation frühzeitig und achtsam unsere aufsteigenden Gedanken, heben wir sie also ein Stück weit aus dem Unbewussten in unser Bewusstsein und erfahren so, dass unsere Gedanken die Ursache unserer Gefühle sind, haben wir unsere Gedanken als Bindeglied zwischen der auslösenden Stresssituation und unserer Gefühlsreaktion erkannt. Jetzt bietet sich uns die Möglichkeit bewusst andere Gedanken über den Stressauslöser zuzulassen, Gedanken, die keine Gefühle von Wut, Ärger oder Angst auslösen.
Die Praxis der Kampfkunst Tai Chi Chuan kann mir dabei helfen, diese Prozesse auch im Kontakt mit Anderen im Alltag zu automatisieren (Substitution die bisher automatisierten unerwünschten Stressreaktion durch eine automatisierte und erwünschte Entspannungsreaktion i.S. einer Umprogrammierung), wodurch sie mir in einer Stresssituationen direkt verfügbar wird.
Falsche Identifikationen beenden
Darüber hinaus können wir grundsätzlich an unserem Selbst-Bild arbeiten. Ich bin nicht ausschließlich meine Gedanken und bin auch nicht ausschließlich meine Gefühle. Ich bin nicht die Objekte meiner Identifizierungen. Ich bin Subjekt. Ich kann meine Identifikation mit meinen Gedanken und Gefühlen lösen, differenzieren, transzendieren und in einem größeren Rahmen wieder integrieren. Wer oder was bin ich dann?
Wenn ich aufhören kann, mich mit den in mir austeigenden Gedanken zu identifizieren, dann wird es mir auch leichter fallen, diese Gedanken in einer Stresssituation vorbeizuziehen zu lassen. Dafür kann ich dann anderen Gedanken erlauben aufzusteigen, die mit anderen inneren Bildern verknüpft sind. Ich verlängere den Zeitraum nach dem Auslöser „Angriff“. Ich kann mich erinnern langsam in den Bauch zu atmen, was wiederum den Parasympathikus anstelle des Sympathikus stimuliert und so in Richtung Entspannung wirkt.
Die gewonnen Zeit zwischen Reiz und Reaktion öffnet die Tür von der Hölle zum Paradies.
Literatur
Fauliot, Pascal: Die Kunst zu siegen, ohne zu kämpfen – Geheimnisse und Geschichten über die Kampfkünste, Goldmann 2003.
Ennenbach, Matthias: Psychosomatik ist die Art und Weise wie wir alle funktionieren. Windpferd 2015.
Herbig, Regine: Gefühlsregulierung – ein Tor zu innerer Balance. Stressbewältigung durch Herz-Resonanz. Junfermann 2013.
Maharshi, Ramana: Sei, was Du bist! Die wichtigsten Lehren des großen indischen Weisen. O.W.Barth 2011.
Metten, Ruth: Bewusst Sein gestalten – Wie wir durch Achtsamkeitstraining und Selbsthypnose unser Leben verändern. Sospital 2013.
Peters, Markus: Gesundmacher Herz – Wie es uns steuert, verbindet und heilt. Der geniale Impulsgeber für Körper und Seele. VAK-Verlag 2013.
Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation – Eine Sprache des Lebens. Junfermann 2004.