Kampf-KUNST Taijiquan

 … was hat Kampf mit Kunst zu tun?


Die Kenntnis der Technik reicht nicht aus.
Man muß die Techniken transzendieren,
damit die Kunst eine kunstlose Kunst wird,
die dem Unbewußten entspringt.

(Daisetz Suzuki)


Betrachten wir zunächst einmal die Künste Malerei und Musik:

Bevor ein Maler ein Künstler werden kann, muß er sich eine ganze Reihe von Techniken aneignen und lernen, sie möglichst perfekt zu beherrschen. Als nächstes versucht er dann, berühmte Kunstwerke nachzu­ahmen und genau zu imitieren. Hat er auch dies gemeistert, wird er versuchen, eigene Kunstwerke zu malen. Dabei mag er zunächst eine Idee zu einem Bild haben und dann wird er nun wahr­scheinlich bewußt die unter­schied­lichsten Techniken einsetzen, um das Bild entstehen zu lassen. Meistens stellt er – oder andere – dann fest, daß es kein großes Kunstwerk geworden ist. Warum? Nun, es fehlt noch der entscheidende Schritt, der einen Maler zum Künstler werden läßt: Er muß alle Techniken transzendieren, sich in einen veränderten Bewußtseinszustand versetzten können und es dem geistigen Bild ermöglichen, sich durch ihn auszudrücken in dem er nur das Medium zwischen diesem geistigen Bild und der Leinwand ist. Dabei sind seine Hände, die Farben, die Pinsel und die Techniken nur Werkzeuge, die völlig unbewußt eingesetzt werden. Das Bild fließt sozusagen aus dem Geistigen durch ihn hindurch ins Materielle, und er läßt sich durch diesen Fluß absichtslos bewegen.

Entsprechendes gilt für einen Musiker: Er lernt zunächst sein Instrument zu beherrschen. Dann wagt er sich an immer anspruchsvollere Musik-Stücke bekannter Meister. Irgendwann wird er beginnen, seine eigene Musik zu komponieren. Dabei wird er bewußt all sein Wissen über Harmonie­lehre sowie seine Kenntnis der Kompositions- und der Spieltechniken der Instru­mente einsetzen. Aber hierbei werden wohl keine Kunstwerke ent­stehen. Auch der Musiker muß auf dem Weg zum Künstler den ent­scheidenden Schritt gehen und alle Techniken vergessen, damit die Musik durch ihn hindurch in das Instrument und auf das Notenblatt fließen kann. In diesem unbewußten Fluß der Musik wird er natürlich alle jemals erlernten Techniken und all sein Wissen einsetzen – aber dies geschieht ohne sein bewußtes Zutun von alleine. Das wiederum heißt, daß die Anfangsschritte auf seinem Weg – das Erlernen von Techniken und das Erarbeiten von Wissen – absolut notwendig waren und nicht übersprungen werden konnten. Das wirklich Entscheidende ist, darüber hinaus zu gehen.

Natürlich sind diese Ansprüche an „Kunst“ ziemlich hoch und entsprechen eher dem Ideal eines asiatischen, durch den Zen-Buddhismus geprägten Künstlers. Manch einer wird ein Gemälde oder ein Musikstück gleichwohl als Kunstwerk wahrnehmen, obwohl der Künstler sich nicht in einem solchen Bewußtseinszustand befunden hat.

Vielleicht verstehen wir jetzt die entsprechenden Zusammenhänge bei einer Kampfkunst – wie z.B. Taijiquan – besser:

Bevor ein Kämpfer ein Kampf­künstler werden kann, muß er zunächst alle Tech­niken und Prinzipien erlernen und perfektionieren. Dies geschieht u.a. durch das unermüdliche Vertiefen der Formen. Im nächsten Schritt wird er dieses Wissen in der Auseinandersetzung mit einem Partner anwenden. Aber das bewußte Anwenden all der Tricks und Kniffe – auch auf der Grund­lage einer soliden Technik und dem Beachten aller Prinzipien – hat immer einen ent­scheidenden Nachteil: Es geht zu langsam, da das bewußte Denken noch vorhanden ist. In der vollendeten Anwendung des Taiji als Kampfkunst schließlich müssen alle Konzepte und Techniken ein­schließlich des Egos transzendiert werden, um völlig absichtslos und achtsam in den augenblicklichen Prozess eintauchen zu können. Alle Bewegung fließt dann völlig natürlich und ungehindert durch einen hindurch, man wird sozusagen vom Dao bewegt. Die Bemühungen auf diesem Weg voranzuschreiten unterstützen in höchstem Maße die spirituelle Entwicklung.


 

Dr. Peter Wolfrum