(… und für Taijiquan könnten hier natürlich viele andere Künste stehen, in denen es um Achtsamkeit und Gewaltlosigkeit geht.)
Wenn wir Taijiquan üben und dann das Dojo, unseren „Übungsraum“ verlassen, verändern wir uns dann? Was geschieht mit den Dingen, die wir beim Taijiquan tun, wenn wir gerade nicht Taijiquan praktizieren? Dinge wie Entspannung, Achtsamkeit, Zentrierung, Gleichgewicht, Verwurzelung, Sinken, Ableiten, Loslassen, Folgen u.v.a.m.
Wissen wir nicht aus Erfahrung, dass wir im Push Hands durch Anwendung bestimmter Techniken kaum Erfolg haben werden? Es kommt doch darauf an, die o.g. Taiji-Prinzipien so sehr zu verinnerlichen, dass sie natürlich, ohne Anstrengung und ohne dass wir etwas hinzu tun, spontan durch uns wirken. Und wenn dem so ist, könnten wir derart verinnerlichte Prinzipien dann überhaupt noch abstreifen? Ja, wollten wir das überhaupt noch? Die Prinzipien wirken im Alltag fort, im „gesellschaftlichen Raum“. Und sollten wir die Prinzipien noch nicht so tief verinnerlicht haben, dass sie von alleine wirken, dann werden wir uns wahrscheinlich bemühen, sie auch im Alltag bewußt zu kultivieren, wohl wissend, dass die uns zur Verfügung stehende reine „Taijiquan-Übungszeit“ äußerst limitiert ist.
Es ist also sehr wahrscheinlich, dass wir die Taiji-Prinzipien im Alltag, in der Gesellschaft, im „öffentlichen Raum“ anwenden – entweder sie wirken ohne unser Zutun, da sie schon sehr weit verinnerlicht sind, oder wir üben uns bewusst in ihrer Anwendung. Und im alltäglichen Leben entfalten sie somit ihre unterschiedlichen Wirkungen, u.a. auch ihre Gesundheitswirkung.
Aber wir wirken Taiji-Prinzipien bei der Arbeit, in Konflikten, beim Einkaufen, bei der Erziehung, in der Partnerschaft, beim Autofahren, im Umgang mit unserer Umwelt? Sind wir auch dabei achtsam und entspannt? Verzichten wir auf Muskelkraft und rohe Gewalt? Wissen wir, wer wir sind und was wir wollen? Stehen und handeln wir verwurzelt, zentriert und aufgerichtet aus unserer Mitte? Können wir Kräfte aufnehmen und neutralisierend in den Boden leiten? Kommunizieren wir gewaltfrei?
Welchen Einfluß hätte diese alltägliche Anwendung der Prinzipien auf eine Gesellschaft, wenn eine kritische Masse an derart Handelnden erreicht ist? Kann man unter diesen Gesichtspunkten dem Taijiquan (und anderen Künsten in diesem Sinne) eine politische Dimension absprechen? Diese Fragen sollen hier bewusst offen gelassen werden. Jeder möge selbst Antworten darauf finden. Und vielleicht kommt so ja ein Prozess ins Rollen, der die politische Dimension des Taijiquan deutlicher macht.
siehe auf ZEIT-online